An(ge)dacht – Gedanken zum Monatsspruch
Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. (Psalm 139,14)
Ab und zu fahre ich in meine mittelhessische Heimat und treffe alte Freunde und Bekannte. Vor zwei Jahren durfte ich zwei davon sogar trauen und ihren Sohn Noah taufen. Das Taufgespräch mit der Familie hat mir viel Freude gemacht und mir etwas gezeigt, was typisch evangelisch – und gleichzeitig heute selten geworden ist.
Ich hatte meine Bibel dabei, um mit der Familie gemeinsam nach einem passenden Taufspruch zu suchen. Das war aber unnötig, denn Noahs Mama hatte schon einen ausgesucht. Aus dem 139. Psalm, den wir als Konfirmanden auswendig zu lernen hatten, hatte sie den 14. Vers ausgewählt, in dem jemand sagt: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“
Ein schöner Spruch, dachte ich. Taufe als Danke-Fest für Gott und als Willkommensfest für ein neues Familienmitglied ist heute der häufigste Wunsch, der mir im Gespräch vor einer Taufe begegnet. Und ich denke, das ist für einen Säugling auch allemal passender als die Definition von Taufe als Akt der Sündenvergebung und der Auferstehung etwas ganz Neuem.
Ich hatte bei meinem ersten Lesen aber nur den ersten Halbsatz wahrgenommen. Das „Ich bin toll, danke dafür.“ Eine Botschaft, die man sich selbst durchaus immer wieder mal sagen sollte, ob mit oder ohne Spiegel. Aber nur, so sagte es Noahs Mama, wenn Noah auch den zweiten Teil begriffen hat: dass er ein wunderbares Geschöpf Gottes inmitten von wunderbaren Geschöpfen Gottes ist. Dass er ein Teil der Natur ist – und nicht ihr Herrscher. Dass er ein Kollege von Menschen, Tieren und Pflanzen ist und dass nicht das Zentrum der Geschichte und der Mittelpunkt der Welt.
Ich fand es schön, dass Noahs Familie den Spruch so genau gelesen und darüber gesprochen hatte. Dass nicht der erste Eindruck zum Spruch eine Entscheidung dafür oder dagegen ausgelöst hat, sondern einen Versuch, den Sinn des Psalms genauer zu erfassen. Und dass das schon passiert ist, bevor ein Pfarrer durch die Tür kommt.
Vielleicht stirbt in diesen Jahren eine Generation aus, in der zum Beispiel ein Landwirt und eine Putzfrau sich in ihrer Bibellese und ihrem Nachdenken über Gott selbstbewusst als Theologe und Theologin fühlen. Als Menschen, mit denen Gott durch die Bibel spricht – und die ihm mit ihrem Glauben antworten.
Vielleicht verkläre ich meine Eindrücke an dieser Stelle etwas. Ich bin aber gespannt, was Sie mir über Ihre Erfahrungen mit dem Bibellesen erzählen.
Ihr Pfarrer Johannes Lösch