An(ge)dacht
Als wir am 15. März in Hähnlein Gottesdienst feierten, ahnte man schon, dass es ein vorübergehender Abschiedsgottesdienst würde, dass die Schließung aller Einrichtungen und damit auch Kirchen bevorstünde. Wir lasen den Wochenpsalm (Psalm 91), in dem die Rede ist von der „Pest, die im Finstern schleicht“, von der „Seuche, die am Mittag Verderben bringt“ und fühlten uns den Menschen, die dies vor Jahrtausenden schrieben, näher denn je. Statt Hostien und Kelch lagen Blumen auf dem Altar. Jeder konnte sich eine mitnehmen, und im Kreis sangen wir: „Seid nicht bekümmert… Jesus, der auferstandene Herr ist in unsrer Mitte“.
Ostern steht vor der Tür, das höchste Fest der Christenheit, die heilige Woche, in der die Kirche rund um den Erdball ihren auferstandenen Herrn preist.
Aber: Eine Karwoche von Palmsonntag bis Ostermontag ohne einen einzigen öffentlich gefeierten Gottesdienst im ganzen Land? Noch vor kurzem hätte ich gesagt, das ist undenkbar! Es gibt keine vorstellbare Katastrophe, die das erzwingen könnte. War und ist es doch stets die Stärke der Kirche, gerade in Krisenzeiten ihre Türen zu öffnen, Menschen einzulassen für Fürbitte und Gebet, zum bestärkenden Gespräch.
Jetzt ist es anders. Das erfordert auch andere Formen von Glauben, Gebet und Seelsorge. Eins aber steht fest: Gott fällt nicht aus. Und Jesus, der auferstandene Herr geht nicht in Quarantäne. Er ist, wie er zugesagt hat, bei uns alle Tage. Deshalb feiern wir Ostern! Auch dieses Jahr, auch hier in Hähnlein, wenngleich in anderen Formen.
Gott ruft zu neuem Leben. Nie zeigt uns die Natur das so deutlich wie im Frühling – in diesem wie in jedem anderen. Die Natur weiß nichts von Corona. Sie blüht, summt und duftet als wäre alles wie immer. Fast surreal erscheint mir das in manchem Moment, vor allem aber ungemein tröstlich. Durch die Veilchenwiese vor meinem Haus zu gehen, mich an der Blütenpracht auf der Terrasse zu freuen, Amseln beim Nestbau zu beobachten und den Blick schweifen zu lassen über die blühenden Hänge der Bergstraße, all das ist mir auch jetzt unbenommen. Es gibt Kraft und bestärkt, besonders dann, wenn ich es nicht einfach als Selbstverständlichkeit nehme, sondern als einen Liebesgruß des Schöpfers.
Noch etwas hat uns in dem „Abschiedsgottesdienst“ Mitte März bestärkt; das war das Lied:
Freunde, dass der Mandelzweig
wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt?
Der Autor Schalom Ben-Chorin schrieb es in einer Zeit, die noch unvergleichlich viel bedrängender gewesen sein muss: 1942, mitten im 2. Weltkrieg. Nachdem er als jüdischer Journalist in Berlin immer massiver bedroht wurde, konnte Ben-Chorin 1935 ins Exil nach Jerusalem fliehen. Von dort aus erlebte er all die Kriegsschrecken und die entsetzlichen Morde an seinen Glaubensgeschwistern mit. Aber der Frühling kam verlässlich und feuerte ihn an, die Hoffnung nicht aufzugeben. So heißt es in seinem Lied:
Dass das Leben nicht verging,
Soviel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering,
in der trübsten Zeit.
Durch das ganze Lied zieht sich das Bild des blühenden Mandelzweiges. Ben-Chorin bezog sich dabei auf eine Stelle beim Propheten Jeremia: Das Wort des Herrn erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig. Da sprach der Herr zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache über mein Wort und führe es aus. (Jeremia 1, 11-12)
Im hebräischen Urtext steckt darin ein Wortspiel. Denn „Mandelzweig“ und „wachen“ klingen auf Hebräisch fast gleich. So wird der Mandelzweig zur Metapher dafür, dass Gott über seine Welt wacht, auch dann, wenn die Bedrängnisse zunehmen.
„Freunde“, so beginnt das Lied. Der Jude Ben-Chorin spricht auf die Weise jeden, der es singt direkt an. Er öffnet uns Augen und Herzen für das, was Juden und Christen im Glauben verbindet: Gottes Macht ist stärker als alle Todesmächte.
Lassen Sie uns diesen Trost weitertragen. Geben Sie die Osterfreude untereinander weiter auf den Wegen, die möglich sind – mit Kartengrüßen, Anrufen, Buchempfehlungen oder via Skype, Facebook & Co. Bleiben Sie behütet und unter Gottes Schutz.
Gesegnete, getröstete und hoffentlich gesunde Ostern wünscht Ihnen allen in Ihren Häusern und Familien
Ihre Pfarrerin Julia Fricke