An(ge)dacht
Ein Osterbild: Ein Motiv, das ich sehr mag. Je länger ich mir dieses Bild anschaue, umso mehr entdecke ich darin. Ich weiß nicht genau, was sich die Künstlerin Dorothee Krämer bei diesem Bild gedacht hat, aber ich möchte Ihnen mitteilen, was ich in diesem Bild sehe.
Mein Blick landet zuerst unten links, bei der Person, die in violett-blauen Tönen auf der Erde kniet. Verzweiflung und Trauer – das drückt für mich ihre Haltung aus. Ohnmächtig, vom Lauf des Lebens auf den Boden niedergedrückt, ohne Kraft, sich aufrichten zu können.
Die angedeutete Person in Kreuzeshaltung, die das Bild im oberen rechten Drittel ausfüllt – da bleibt mein Blick als Zweites hängen. Schließlich wandern meine Augen zu den zwei Figuren, die schemenhaft dazwischen dargestellt sind. Wie passen diese Personen zueinander?
Zunächst denke ich an die Passionsgeschichte. Jesus kniet zusammengekauert im Garten Gethsemane. „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“ (Markus 14,34a). Jesus betend, verzweifelt, allein. „Vater, nimm diesen Kelch von mir.“ Wir wissen, dass es anders kam. Es folgten Verhaftung, Verhör und Demütigung. Die beiden Personen über der knienden Person erinnern daran. Der Bewegungsverlauf endet mit Jesus am Kreuz.
Aber irgendwie scheinen die Farben rund um die Person mit den ausgestreckten Armen nicht so recht zu Karfreitag zu passen. Kreuzigungsbilder, die ich kenne, sind vielfach in dunklen oder zumindest zurückhaltenden Farben gehalten. Hier ist es ganz anders. Ein kräftiges Rot unter dem linken Arm und ein hell strahlendes Gelb gehen von dem Körper aus. Hier scheint das Kreuz kein Ort der Dunkelheit und Verzweiflung zu sein, sondern ein Ort der Herrlichkeit und des Lichts. Ist es doch eher ein Osterbild? Ein Bild, das zeigt, wie eng Kreuz und Auferstehung zusammengehören?
Die Künstlerin hat dem Bild den Titel „Aufstehen“ gegeben. Wenn ich an diesen Titel denke und meine Gedanken rund um das Ostergeschehen kreisen, fällt mir eine weitere Geschichte aus der Bibel ein: die Frauen am Ostermorgen, die ersten Botinnen der Auferstehung. Aus der Trauer des Karfreitags, an dem sie verzweifelt am Boden zerschlagen waren, standen sie auf und machten sich auf den Weg zum Grab. Sie nahmen als Erste das helle Licht wahr, das aus dem Grab hervorging. Langsam wuchs bei ihnen wieder die Wahrnehmung für die Welt um sich herum, die Offenheit für Neues und die Bereitschaft, die Welt in all ihren Farben zu empfangen. Mit dieser Hoffnung gingen sie in neues Leben. Die Person im oberen rechten Drittel: Eine Person mit offenen Armen? Bereit Neues zu empfangen?!
Ein dritter Durchgang durch das Bild:
Die Person, die über dem zusammengekauerten Menschen steht, wirkt, als hätte sie die Arme auf den Rücken der unteren Person gelegt. Sie wendet sich der am Boden zusammengekauerten Person zu und steht ihr bei. Vielleicht hilft sie ihr sogar, wieder aufzustehen. So fange ich an, das Bild von rechts nach links zu lesen und es entsteht ein sehr tröstliches Bild:
Von den hellen Farben, von Ostern herkommend, weiß ich: Jesus steigt herab vom Kreuz. Er wendet sich all denen zu, die in Sorge und Leid sind. Erst vorsichtig schauend, vielleicht verbunden mit seinem häufig gesprochenen Satz: „Was willst du, dass ich dir tue?“ (Lukas 18,41) wendet sich Jesus der Person zu. Dann legt er ihr die Hand auf. Das ist für mich auch Ostern. Die feste Hoffnung, dass ein Aufstehen immer wieder möglich ist. Jesus kommt vom Kreuz herab, kommt zu mir kommt und stützt mich. Er hilft mir aufzustehen, mich aufzurichten, die Arme auszubreiten und neu zu empfangen.
Viele von uns erfahren in den letzten Wochen eine neue, gegenseitige Zuwendung. Unterstützung bei Einkäufen wird angeboten, fürsorgliche Telefonanrufe werden geführt und mutmachende Grüße ausgetauscht. Gleichzeitig gehören ungewisses Fragen, wie es weiter gehen soll, vielleicht auch Trauer und Verzweiflung genauso zu diesen Tagen.
Irgendwo zwischen der verzweifelten Person am Boden und der Person, die die Arme öffnet, um das Leben zu empfangen, können wir uns einordnen. Ob wir Trauernde, Empfangende oder Helfende sind, die Osterbotschaft in ihren leuchtenden Farben teilen wir miteinander: Der Herr ist auferstanden!
Herzliche Grüße,
Ihr Pfr. Christian Hilsberg
PS: Wenn Sie das Bild noch als Postkarte haben möchten, können Sie sich gerne an mich wenden. Ich habe noch einige Postkartenabzüge!