An(ge)dacht
Seelsorge am Fenster
Schon bei meinem ersten Gang rund um die Kirche in Ober-Beerbach fiel mir das kleine, schmale Fenster im Osten auf. Es liegt tief, genau in Griffhöhe. Wohl deshalb ist es vergittert worden. Alle anderen Fenster sind viel höher gebaut.
Hm, schon etwas merkwürdig.
Ein Artikel in der Zeitschrift „Monumente“ brachte mich 15 Jahre später auf eine Idee …
Unser Kirchturm stammt aus der Romanik. In der Gotik wurde er von der Frankensteinischen Herrschaft nach den Vorstellungen der zeitgenössischen Theologie umgebaut.
- Die größeren Fenster lassen das Sonnenlicht, die Energie Gottes, hinein.
- Der Anbau einer geräumigen Sakristei zeigt, dass die Heilige Messe aufgewertet wurde.
- Die Malereien mit ihrem Bildprogramm zeigt das Leiden und Auferstehen Jesu und laden zum Mitleiden und Mitfreuen ein.
Im „Seeheim-Jugenheimer Heimatbuch“ findet man, dass 1423 der erste Pfarrer hier Dienst getan hat. Also waren die Arbeiten kurz vorher fertig geworden.
Die Frankensteiner waren mit den Zisterzienserinnen des Nonnenklosters von Patershausen bei Heusenstamm verwandt und befreundet. Gewiss haben die Bauherren mit dem Kloster, dass die geistliche Aufsicht über das Kirchenpersonal hatte, sorgfältig und seelsorgerlich überlegt, welche Konzeption für Gemeinde und entsprechend für den Kirchenbau wichtig ist. Sie wollten als Patrone und Kirchenvorsteher gute Seelsorger für ihre Leute sein.
Was aber macht man in Zeiten ansteckender Krankheiten, Seuchen, Pest?
Wie können die Kranken seelsorgerlich ohne direkten Kontakt versorgt werden? Wie können die infizierten Gläubigen an der Messe teilnehmen?
„Wir können unsere Kranken nicht einfach alleine lassen und sterben lassen! Sie brauchen Trost und Stärkung!“
Diese kleinen Maueröffnungen gab es ab dem 12. Jahrhundert bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Sie ermöglichten sie den Blick von außen auf das Geschehen im Altarraum oder auf einen Seitenaltar, wo die Hostie gezeigt wurde. Der Blick auf die geweihte, gewandelte Hostie, also auf Jesu Leib selbst, war heilsam und der Empfang der Kommunion rettend.
Diese „Schiel-Löcher“ und „Leprosenspalten“ entstanden in schweren Zeiten. Lepra als Folge der Kreuzzüge kam im zwölften Jahrhundert nach Europa. Die Pest kam über Venedig später hierher. Immer wieder kam und kommt es zu Epidemien mit vielen Erkrankten.
Wir erleben es ja gerade!
In Städten gab es Siechenhäuser und Kranken-Seelsorger, eine eigene Infrastruktur. Aber auf dem Land? Hier lebten die Kranken auf Friedhöfen oder in Scheunen außerhalb. Damit auch sie „sehen und schmecken, wie freundlich der Herr ist“, wurden diese Mauerspalten angebracht.
Unser Sakristei-Fenster könnte mehrere Funktionen gehabt haben. Belüftungsmöglichkeit und Lichtquelle und Sichtfenster auf die Hostie, die vielleicht auf einem kleinen Seitenaltar-Tisch lag. Nach der Messe konnte der Priester oder sein Meßdiener die Hostien auf die Fensterbrüstung legen. Danach konnte die Erkrankten die Hostie in Empfang nehmen und am Heilsgeschehen teilnehmen.
Das Sakristei-Fenster wurde nach der großen Pestepidemie in besseren Zeiten gebaut. Wer kann wissen, was die Zukunft bringen wird? Das spricht für eine kluge seelsorgerliche Konzeption von Bauherr und Geistlichkeit. Nach der Epidemie ist vor der Epidemie. Kann es so gewesen sein?
Im Online-Lexikon Wikipedia findet man unter dem Stichwort „Hagioskop“ Listen von Kirchen mit entsprechenden Fotografien.
Auf Abendmahlsfeiern in guten Zeiten mit unbeschwertem Kontakt freue ich mich jetzt schon!
Bleiben Sie behütet und gesund.
Ihre Pfarrerin Angelika Giesecke.