An(ge)dacht
Vor einigen Jahren waren meine Frau und ich im Urlaub in Frankreich. Da es auf unserem Reiseweg lag, wollte ich gerne einmal das Labyrinth in der Kathedrale von Chartres besuchen. Wie enttäuscht war ich, dass das Labyrinth kaum zu sehen war, weil man darüber zahlreiche Stuhlreihen aufgestellt hatte. Trotzdem fand ich das Mosaik aus hellen und dunklen Steinplatten im Boden faszinierend.
Aber wie kommt es eigentlich, dass sich ein solches Bild im Boden einer Kirche wiederfindet?
Auch wenn man es nicht auf den ersten Blick sieht: Es ist nur ein langer Weg, der durch das ganze Labyrinth hindurchführt und am Ende in der Mitte ankommt. Das ist anders als bei einem Irrgarten. Dort gibt es Sackgassen oder auch Wege, auf denen man nicht ans Ziel gelangt, sondern immer wieder an die selbe Stelle zurückgeführt wird.
Das Labyrinth ist ein Symbol, in dem man einen bildhaften Ausdruck für den menschlichen Lebensweg sehen kann. Wir können uns in Gedanken auf den Weg durch dieses Labyrinth begeben. Zunächst kommen wir dabei recht schnell voran. Schon nach kurzer Zeit sind wir der Mitte ganz nahe. Es scheint so, als bräuchte es nur noch eine Wendung und wir sind am Ziel.
Doch dann kommt es anders: Der Weg führt außen um die Mitte herum und wieder fort von ihr. Es ist ein weiter Weg, ein Weg mit vielen Windungen. Und statt uns direkt ans Ziel zu bringen, führt er uns erst einmal wieder von der Mitte weg.
Auf unserem Lebensweg haben wir vielleicht ähnliche unerwartete Wendungen erlebt, die unseren Weg völlig verändert haben: Ein Schicksalsschlag etwa oder eine Krankheit, die in unser Leben einbricht. Ein Mensch, der uns nahe stand, hat uns verlassen oder ist gestorben. Und wir spüren in solchen Situationen: Nichts in unserem Leben ist sicher. Nichts bleibt, wie es war.
Wozu all diese Umwege und Windungen? Kann ich nicht einfach direkt zur Mitte gehen und Ruhe finden bei Gott?
Manchmal würden wir gerne eine Abkürzung nehmen, Wegstrecken aussparen oder überspringen. Aber eine Abkürzung gibt es nicht. Es muss alles gegangen, alles erfahren sein. Nichts kann ausgelassen werden. Die einzige Alternative wäre: stehen bleiben, den Weg verweigern. Aber das führt nicht zum Ziel.
Manchmal gelangen wir auf unserem Weg durch das Labyrinth bis an den äußersten Rand, weit weg von dem, was uns bisher gehalten und getragen hat. Es scheint, als hätten wir uns verlaufen. Und vielleicht wissen wir manchmal nicht mehr weiter. In einem Augenblick steht uns das Ziel vor Augen, zum Greifen nahe, und dann werden wir wieder weit zurückgeworfen, zurück wie an einen Anfang – und wir meinen vielleicht: Es war alles umsonst.
Dann, plötzlich, unerwartet und gleichsam wie von selbst – die Mitte. Der Weg ist an sein Ziel gelangt. Man kommt an – ganz bei sich selbst – oder auch bei Gott – und wahrscheinlich meistens beides zugleich.
Da darf man ausruhen, tief durchatmen, sich spüren in seiner Lebendigkeit und Einmaligkeit, einfach nur sein.
Irgendwann muss man dann wieder aufbrechen, den Weg weiter gehen, wieder hinaus in den Alltag auf manchmal verschlungenen und wechselvollen Pfaden. Aber jetzt geht es sich anders, denn man kommt von der Mitte her. Die Kraft aus der Begegnung mit Gott und mit sich selbst ist zur Wegbegleiterin geworden.
Das Labyrinth – ein Symbol für das Leben. Es will uns einladen, uns auf den Weg zu machen, will uns ermutigen, nicht aufzugeben, wenn der Weg lang und schwierig wird, sondern weiterzugehen, weil es ein Ziel gibt. Am Ende des Weges wartet die Mitte – der Ort der tiefen Begegnung mit Gott und mit uns selbst, wo wir Frieden finden und Kraft für neue Schritte.
Bleiben Sie behütet!
Hans-Peter Rabenau, Pfr.